Die Vorgeschichte

Angefangen hat alles in den 70er Jahren während der Sanierung der Stadtteile Linden-Süd und Linden-Nord. Bürgerinitiativen, Mietergruppen und andere Protestgruppen wurden ins Leben gerufen. Sie wollten verhindern, dass die alten und preiswerten Wohnungen in Linden abgerissen werden, aber auch dass "Luxussanierungen" zu erhöhten Mieten und damit zu einer Verdrängung der dort wohnenden, in der Regel einkommensschwache Menschen führten.

 

Die Sanierungsplaner argumentierten, die Bausubstanz sei nicht mehr haltbar  und den Wohnungen würde zudem Licht, Luft und Sonne fehlen. Sie hatten dabei die Bewohner und deren Wunsch, zu verträglichen Mieten im Stadtteil bleiben zu können, weniger im Blick. Die Initiativen forderten dagegen von der Stadtverwaltung mehr Beteiligung  und die Berücksichtigung vor allem auch der ärmeren Bewohner des Stadtteils bei der Sanierungsplanung.

Parallel entwickelte das junge Architekturbüro "agsta" ein Finanzierungsmodell, das Familien mit geringem Einkommen die Chance geben sollte, durch den Einsatz  von handwerklicher Arbeit renovierungsbedürftige Häuser zu einem langfristig preiswerten Zuhause aufzuwerten. Das Modell nutzte die öffentliche Städtebauförderung, um die Fördermittel den Betroffenen direkt zu Gute kommen zu lassen. In den Arbeiterhäusern der Ahrbergstraße und der Viktoriastraße setzte die "agsta" das Modell in die Praxis um. Eine Reihe von Familien kamen so in den auf Erbpacht basierenden "Besitz" von Häusern, wovon sie nie zuvor zu träumen gewagt hatten.

Die Idee

An diesem Modell orientierte sich eine Gruppe von engagierten BürgerInnen und ArchitektInnen aus Linden, als sie nach einer Möglichkeit zur bewohnernahen, sozial verträglichen Modernisierung für Mehrfamilienhäuser suchte.

Wichtig war ihnen außerdem, langfristig die Spekulation mit Wohnraum zu verhindern. Nach der Modernisierung sollten die Miete dauerhaft sozial gebunden bleiben und nicht - wie bei privaten Hausbesitzern üblich - nach  10-jähriger Bindung erhöht werden. Die Beteiligung der künftigen Bewohner bei der Planung der Grundrisse und der Austattung "ihrer" Wohnung war ein entscheidendes Kriterium. Über die Selbsthilfe, also die Mitarbeit an der Modernisierung, sollten Kosten gespart, das Zusammenwachsen einer Hausgemeinschaft gefördert und die Bildung einer guten Nachbarschaft unterstützt werden. Die genossenschaftliche Organisation erschien dafür am besten geeignet. Zwar sollten die Bewohner ein Dauerwohnrecht und eigentumsähnliche Rechte erhalten, über ihren Wohnraum aber nicht derart verfügen können, dass er zu eigenen Gewinnzwecken und somit zum Nachteil der Gemeinschaft genutzt wird.

Die Gründung

Für diese Idee konnten die Initiatoren schon bald Menschen begeistern, die zwar selbst keine Wohnung suchten und in der Regel auch nicht zu dem förderberechtigen Bewerberkreis gehörten, aber ein politisches Interesse damit verbanden. Ihnen war am Erhalt der Bevölkerungsstruktur in ihrem Stadtteil und an der Ausweitung der Mitbestimmungsrechte von Mietern gelegen. So kamen im September 1982 20 Frauen und Männer zsammen und gründeten die Wohnungsgnossenschaft Selbsthilfe Linden (kurz WSL). Zusammen mit 40 weiteren Mitstreitern, die sich in den folgenden Wochen der Genossenschaft anschlossen, brachten sie in kurzer Zeit 60.000,00 DM Gründungskapital auf. Die Eintragung ins Genossenschaftsregister erfolgte am 04. Mai 1983 und war in Niedersachsen die erste Neugründung einer Wohnungsgenossenschaft seit mehr als 25 Jahren. 

Der Start

Mittlerweile waren auch einige Kommunalpolitiker und Stadtplaner der Verwaltung auf den Weg der "behutsamen Stadterneuerung" umgeschwenkt und zeigten die Bereitschaft, der Genossenschaft eine Chance zu geben. Die Stadt Hannover schloss für zwei zum Abriss vorgesehene Häuser (Albertstr. 20 und Großkofstr. 7) Erpachtverträge mit der WSL ab und nahm die Bauvorhaben zur Modernisierung der Gebäude ins Städtebauförderungsprogramm für 1985 auf. Den erforderlichen Eigenanteil in Höhe von 15% der Baukosten sollten die späteren Bewohner selbst in Form von Eigenleistung erbringen.

Dann konnte es endlich losgehen. Sieben mutige Familien machten den Anfang. Unter Anleitung von zwei Architekten brachten sie innerhalb eines Jahres den Beweis, dass Selbsthilfe auch in Mehrfamilienhäusern praktikabel ist. 

Ein Jahr intensiver Bautätgkeit und gruppendynamischer Planungs-und Arbeitsprozesse lag hinter ihnen, als die Familien im Frühling 1986 ihre fertigen Wohnung beziehen konnten. Die Wohnungen waren nach ihren Wünschen umgebaut worden und hatten einen hohen Standard. Die Mietverträge garantierten eine Mietbindung für 25 Jahre. Nach diesem gelungen Start kamen weitere private und städtische Wohngebäude in den Besitz der Genossenschaft. Im Laufe der ersten 10 Jahre wurden insgesamt 10 Häuser mit 60 Wohnungen nach dem Selbsthilfemodell modernisiert.

Wachstum

Ende der 80er Jahre erhielt die Genossenschaft dann ein weiteres Standbein: die Reprivatisierung. Die Stadt Hannover als Sanierungsträger war nach dem Baugesetzbuch verpflichtet, Hausbesitz, den sie im Rahmen der Sanierung erworben hatte, wieder zu verkaufen -also zu "reprivatisieren". Als Käufer kam die Genossenschaft mit ihrem gemeinnützigen Ansatz in Betracht. So gelangten innerhalb kurzer Zeit mehr als 200 teilweise modernisierte und vollständig vermietete Wohnungen zusätzlich in den Besitz der WSL. 

Spätestens damit wurde deutlich, dass die Hausverwaltung weder zeitlich noch fachlich nebenbei von den Architekten oder Bewohnern erledigt werden konnte. Büroräume wurden im Obergeschoss des Bürgerhauses Linden-Süd gefunden und zwei fest angestellte Mitarbeiterinnen (eine Selbsthelferin und ein Gründungsmitglied) nahmen ihre Arbeit auf. Die "Initiativgruppe" wurde zu einem professionell geführten Unternehmen.

Es folgten in den Jahren 1999 bis 2002 weitere Selbsthilfeprojekte in 7 Altbauten mit insgesamt 59 Wohnungen.

1997 betrat die WSL noch einmal Neuland - dieses Mal in wahrsten Sinne des Wortes: sie übertrug das Selbsthilfemodell auf die Errichtung von Neubauten. Auf drei Grundstücken in Linden-Nord baute die Wohnungenossenschaft neue Wohnhäuser mit insgesamt 28 Wohnungen und einer Kindertagesstätte. Auch hier funktionierte das Modell "Muskelhypothek statt Eigenkapital".

Konsolidierung

Danch verlangsamte sich das Wachstum der Genossenschaft allmählich. Das Hauptaugenmerk liegt seitdem in der Pflege und Aufwertung des Wohnungsbestandes. Nach und nach modernisierte die WSL in Absprache und Zusammenarbeit mit den Bewohnern auch die so genannten "Substandardwohnungen" (Toilette auf 1/2 Treppe, Ofenheizung und ohne Bad). Den bislang letzten Zuwachs verzeichnete die WSL im Jahr 2008 durch den Kauf der Häuser Behnsenstr. 5 und Ahrbergstr. 12 in Linden-Süd. Im Haus Behnsenstr. 5, das zum Zeitpunkt des Kaufs fast leer stand, konnte noch einmal ein Selbsthilfeprojekt mit 3 Familien realisiert werden. Seitdem ist der Wohnungsbestand bei einer Zahl von 348 Wohnungen und 16 Gewerbeeinheiten  - verteilt auf 50 Gebäude - unverändert.

Bei einer Durchschnittsmiete von ca. 5,40 € /qm Wfl. pendeln die Kaltmieten im Jahr 2019 zwischen 3,55 - 4,50 €/qm Wfl. für teilmodernisierte Wohnungen und 5,50 - 6,50 € für modernisierte bzw. Neubauwohnungen. Sie liegen damit im unteren Bereich des Mietspiegels für Hannover-Linden.

 

Im Jahr 2018 betrug die Bilanzsumme ca. 9,6 Millionen € bei einem Eigenkapial von ca. 900.000,- €. Das Eigenkapital wird überwiegend gebildet aus den Genossenschaftsanteilen der 415 Mitglieder; der Genossenschaftsanteil beträgt 600,00 €. 

Organisation

Die Vorstandsarbeit wird seit Beginn überwiegend ehrenamtlich  von den Architektinnen und Architekten  aus der "Gründerzeit" geleistet; im Aufsichtsrat sind engagierte Stadtteilbewohner und Mieter vertreten. 6 MitarbeiterInne- drei davon in Teilzeit kümmern sich um die kaufmännischen, technischen und sozialen Belange der Hausverwaltung. Im 2-Wochenrhythmus kommt der Vorstand zusammen und entscheidet in Absprache mit MitarbeiterInnen und dem Aufsichtsratsvorsitzenden über Maßnahmen zur Konsolidierung und Weiterentwicklung der Genossenschaft.

Erreichtes

Das Lindener Modell wurde beispielgebend für eine bundesweite Neubelebung der fast vergessenen genossenschaftlichen Selbsthilfe-Tradition. Im Jahr 2002 wurde die Wohnungsgenossenschaft Selbsthilfe Linden eG dafür mit dem bundesweit ausgelobten Klaus-Novy-Preis geehrt. 

Die Wohnungsgenossenschaft Selsthilfe Linden ist seit über 30 Jahren ein wohnungspolitisches Instrument zur Stabilisierung der Sozialstruktur in Linden. Sie steht für dauerhaft preiswerte Mieten, Selbsthilfe statt Eigenkapital, weit  reichende Mitbestimmungsrechte und ein gleichberechtigtes Miteinander von deutschen und ausländischen "Lindenern".